
Geschichtsrevisionismus Wie der Nationalsozialismus umgedeutet wird
Die Ideologie der Nationalsozialisten, Hitlers Tod, die Opfer des Holocaust: Historische Fakten werden in den sozialen Netzwerken immer wieder für politische Zwecke umgedeutet oder ganz geleugnet. Warum?
Adolf Hitler sei ein Kommunist gewesen; darüber waren sich AfD-Parteichefin Alice Weidel und der US-Milliardär Elon Musk in ihrem Gespräch Anfang des Jahres einig. "Wer so etwas behauptet, hat keine Quellenkenntnis und auch keinen historischen Verstand über die Dinge, die im Nationalsozialismus propagiert wurden", sagt Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. "Ich kenne keinen Historiker, der sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus oder mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, der auf die Idee käme, dass Hitler ein Kommunist gewesen sei."
Dennoch kommt es immer wieder vor, dass historische Fakten geleugnet oder umgedeutet werden. Erst vor Kurzem erlangte ein Post auf der Plattform X große Aufmerksamkeit, in dem behauptet wurde, der US-amerikanische Geheimdienst habe in freigegebenen Argentinien-Akten bestätigt, dass Hitler Deutschland verließ und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien gegangen sei. Dabei gilt es als gesichert, dass Hitler am 30. April 1945 im Führerbunker Suizid beging. "Man kann das bis ins kleinste Detail inklusive der sowjetischen Analysen nachlesen", sagt Brechtken.
Als Geschichtswissenschaftler sei es frustrierend, dass der wissenschaftliche Forschungsstand über historische Ereignisse ohne jegliche Quellenkenntnisse angezweifelt werde. "Jeder, der sich mit diesen Themen auch nur halbwegs beschäftigt, kann das seit Jahrzehnten nachlesen und auch alle Quellen nachprüfen." Erst müsse man sich daran orientieren, was tatsächlich aus Quellenüberlieferung gesichert sei, darauf aufbauend könne man dann diskutieren.
Geschichtsrevisionismus als Teil einer Strategie
Das Verbreiten falscher oder verzerrter historischer Informationen ist häufig Teil gezielter Desinformationsstrategien“, sagt Nathalie Rücker, Politikwissenschaftlerin am Institute for Strategic Dialogue (ISD). "Dabei ist es zentral, den Zusammenhang zu erkennen: Solche Aussagen dienen oft dem Zweck, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren, umzudeuten oder ihre historische Bedeutung zu untergraben."
Das geschehe häufig in subtiler Form - etwa durch das Platzieren vermeintlich kritischer Fragen, das Relativieren nationalsozialistischer Verbrechen durch den Vergleich mit anderen historischen Ereignissen oder durch die Verbreitung verzerrter Zahlen und irreführender Behauptungen, die als "Gegenerzählungen" zur etablierten Geschichtsschreibung präsentiert werden. "Solche Inhalte sollen oft bewusst harmlos oder sachlich wirken, zielen aber darauf ab, Zweifel an gesicherten historischen Fakten zu säen, die Verantwortung für NS-Verbrechen zu verschleiern und rechtsextreme Deutungsmuster anschlussfähig zu machen", so Rücker.
Den Akteuren, die historische Tatsachen verzerren oder leugnen, gehe es dabei vor allem darum, die Geschichte so umzudeuten, dass sie ins eigene Weltbild passe und dieses legitimiere. Indem zum Beispiel Hitler teils als Gegenspieler heutiger rechter Strömungen inszeniert werde, könnten sich diese scheinbar von ihm distanzieren - obwohl es inhaltlich viele Überschneidungen gebe. "Das hilft nicht nur, sich selbst zu entlasten, sondern auch, rechtsextreme Ideologien in der heutigen Debatte als harmloser oder normaler erscheinen zu lassen.
Falschbehauptungen über Opferzahlen des Holocaust
Auch die Opferzahlen des Holocaust werden von diesen Kreisen immer wieder angezweifelt. Dabei gilt es auch hier als wissenschaftlich gut gesichert, dass insgesamt zwischen mindestens 5,29 Millionen und etwas über 6 Millionen Juden von den Nationalsozialisten getötet worden sind. Etwa vier Millionen in Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Bergen-Belsen, zwei weitere Millionen durch Massaker in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten, vor allem im Russlandfeldzug.
In den sozialen Netzwerken taucht jedoch beispielsweise immer wieder ein Dokument auf, das verwendet wird, um die Zahl der Opfer zu relativieren. Dabei handelt es sich um eine Liste der Arolsen Archives, in denen die Zahl der Totenscheine angeführt wird, die auf Antrag für Häftlinge aus Konzentrationslagern wie Dachau, Buchenwald und Bergen-Belsen ausgestellt wurden. Insgesamt sind das weniger als 300.000.
Allerdings ist das nur die Zahl der Totenscheine, die nachträglich ab 1949 auf Antrag von Angehörigen ausgestellt worden sind. Das Dokument ist somit unvollständig und enthält bei weitem nicht alle der Millionen von Juden, die in Vernichtungslagern ermordet wurden oder die bei Massenerschießungen ums Leben kamen.
"Manche verbreiten Falschbehauptungen ganz bewusst"
"Wenn Menschen die Zahlen oder den Holocaust generell infrage stellen, muss man sich fragen, warum sie das verbreiten", sagt Brechtken. Es gibt aus seiner Sicht zwei Möglichkeiten. Manche Menschen wollten sich mit solchen Themen nicht auseinandersetzen, hätten keine Ahnung oder seien ignorant.
Und dann gebe es Menschen, die solche Falschbehauptungen etwa ganz bewusst vebreiteten: "Menschen, die aus rassistischen Gründen, aus politischen Gründen oder aus ideologischen Gründen der Meinung sind, dass sie ein autoritäres, vielleicht sogar faschistisches oder nationalsozialistisches Regime gerne wieder errichten möchten. Und für die ist der negative Ruf, der sowohl durch den Holocaust wie durch die anderen NS-Verbrechen gegeben ist, ein Hindernis." Deswegen versuchten sie, gezielt Zweifel zu streuen.
Desinformation aus den USA
In den letzten Jahren sei insbesondere im digitalen Raum ein zunehmender Einfluss rechtsextremer Akteure aus den USA auf die Verbreitung geschichtsverzerrender und -leugnender Inhalte auch in Deutschland zu beobachten, so Rücker. "Dies ist Teil eines komplexen Geflechts ideologischer Verbindungen, über das sich Narrative, Rhetoriken und Strategien länderübergreifend verbreiten." Inhalte aus den USA würden von deutschen Akteuren aufgegriffen, übersetzt und an lokale Kontexte angepasst - nicht nur durch Einzelpersonen, sondern auch durch Netzwerke und Organisationen, die ideologisch mit Akteuren aus dem rechtsextremen Spektrum in den USA sympathisierten.
Verstärkt werde diese Dynamik durch die globale Reichweite US-basierter Plattformen: "Die meisten großen sozialen Netzwerke sind in den USA ansässig und erreichen ein weltweites Publikum", erklärt Rücker. Englischsprachige Inhalte verbreiteten sich besonders schnell, da sie häufiger geteilt werden als Inhalte in anderen Sprachen. Hinzu komme, dass die Meinungsfreiheit in den USA anders ausgelegt wird als in vielen europäischen Ländern. Während in den USA zum Beispiel Holocaustleugnung rechtlich zulässig ist, ist sie in Deutschland strafrechtlich verboten.
Auch die Plattforminfrastruktur, das heißt systemische Risiken selbst wirkten sich auf die Verbreitung solcher Inhalte aus: Empfehlungsalgorithmen, Reichweitenanreize durch Monetarisierung sowie eine oft unzureichende Moderation schaffen ein Umfeld, in dem revisionistische Inhalte, einmal online, besonders leicht verstärkt und normalisiert werden können.
Unterschwellige Botschaften für bestimmte Zielgruppen
Nach Angaben der UNESCO haben 49 Prozent der Millenials und Gen Z in den USA Inhalte im Netz gesehen, die den Holocaust leugnen oder zumindest verzerrt darstellen. Beiträge in den sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten, die den Holocaust betreffen, sind einer Untersuchung der UNESCO zufolge oft faktenverzerrend oder falsch - bei Telegram sogar bei knapp der Hälfte der analysierten Posts.
Oft würden verzerrende oder leugnende Inhalte nicht offen, sondern in codierter, indirekter Form verbreitet. Eine gängige Strategie dabei seien sogenannte Dog Whistles - unterschwellige Botschaften, die für die breite Öffentlichkeit unauffällig oder harmlos erscheinen, aber von bestimmten Zielgruppen eindeutig verstanden werden. "Sie bedienen sich häufig humorvoller oder ironischer Mittel, um extremistische Narrative zu tarnen und anschlussfähig zu machen. So wird suggeriert, es handele sich nur um einen Witz - eine Hintertür, die es erleichtert, sich der inhaltlichen Verantwortung zu entziehen", so Rücker.
Große Wissenslücken in Teilen der Bevölkerung
Dass solche Falschbehauptungen über wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse dennoch zumindest in Teilen der Bevölkerung verfangen, erklärt sich Brechtken vor allem mit fehlendem Wissen. "Viele Menschen haben keine fundierten historischen Kenntnisse. Vielen fehlt zudem die Fähigkeit zu beurteilen, was historisch plausibel ist und was nicht und welche Quellen seriös sind."
Eine Befragung der Organisation Jewish Claims Conference in acht verschiedenen Ländern zeigt, dass zumindest in Teilen der Bevölkerung große Wissenslücken über den Holocaust bestehen. So gaben in Deutschland zwölf Prozent der Befragten im Alter von 18 bis 29 Jahren an, noch nie vom Wort Holocaust gehört zu haben. In Frankreich waren es in der Altersgruppe sogar 46 Prozent.
Dass sechs Millionen Juden während des Holocaust getötet wurden, wussten in Deutschland nur etwa die Hälfte der Befragten. 18 Prozent gaben an, dass sie glauben, dass nur zwei Millionen oder weniger Juden getötet wurden. Zehn Prozent der Befragten in Deutschland gaben an, dass die Zahl der getöteten Juden stark übertrieben worden ist. Zwei Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass der Holocaust ein Mythos ist und nie passiert ist.
In einer Studie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft stimmten gut zehn Prozent der Befragten der Aussage eher oder stark zu, dass sie bezweifelten, dass alles stimmt, was über das Ausmaß der Judenverfolgung berichtet wird. Knapp ein Viertel der Befragten lehnte die Aussage eher oder stark ab, dass es wichtig sei, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus in Deutschland lebendig zu halten. Etwa 15 Prozent stimmten der Aussage eher oder stark zu, dass man nicht alles glauben könne, was über die deutsche Vergangenheit erzählt wird.
"Einfallstor für Akteure aus rechtsextremen Spektrum"
"Solche Wissenslücken eröffnen rechtsextremen Akteuren ein Einfallstor, um geschichtsrevisionistische Narrative zu verbreiten", warnt Rücker. Um dem wirksam entgegenzutreten, reiche es nicht aus, bloß auf Leugnung und Verzerrung zu reagieren - es brauche gezielte Prävention. Ein zentraler Ansatz sei dabei die Stärkung von Medienkompetenz, insbesondere durch sogenannte Prebunking-Strategien, die Menschen frühzeitig für typische Manipulationsmuster sensibilisieren - etwa für Mechanismen wie die Täter-Opfer-Umkehr.
Ebenso entscheidend sei es, verlässliche historische Quellen, etwa die Berichte von Zeitzeugen, sichtbar zu machen und stärker im öffentlichen Diskurs zu verankern.
Das sieht auch Brechtken so: "Wenn wir die Demokratie stabilisieren und stärken wollen, müssen wir das Bewusstsein dafür stärken, dass man sich selbst eine Meinung bilden kann und dass die Informationen für die Meinungsbildung auch verfügbar sind." Deshalb müsse man sich mit einer energischen Vehemenz gegen solche Falschbehauptungen wehren.