Karin Prien bei einem Interview im Bundestag nach dem gescheiterten ersten Wahlgang für Kanzlerkandidat Friedrich Merz

Schleswig-Holstein Prien als erste jüdische Bundesministerin: "Endlich eine von uns"

Stand: 15.05.2025 10:00 Uhr

Karin Prien ist die erste Bundesministerin mit jüdischen Wurzeln. Die Jüdische Gemeinde in Flensburg setzt große Hoffnungen in die CDU-Politikerin - zu einer Zeit, in der die Zahl antisemitischer Vorfälle in SH einen neuen Höchstwert erreicht und die Kippa lieber nicht mehr öffentlich getragen wird.

Von Konstanze Nastarowitz und Daniel Sprenger

Der Kaffee steht frisch gebrüht auf dem Tisch, drumherum süßes und salziges Gebäck und Süßigkeiten. "All unser Essen kommt aus Israel! Das sind Burekas und Hamantaschen", sagt Elena Sokolovsky. Sie ist Mitglied der orthodox ausgerichteten Jüdischen Gemeinde Flensburg und sitzt mit sieben anderen Gemeindemitgliedern an einer liebevoll gedeckten Kaffeetafel. Sie besprechen die kommenden Veranstaltungen. In diesen Wochen richtet sich ihr Blick allerdings nicht nur aufs eigene Programm, sondern auch nach Berlin. Denn dort hat mit Karin Prien gerade die erste Bundesministerin mit jüdischen Wurzeln die Arbeit aufgenommen - im neu zugeschnittenen Bildungs- und Familienministerium.

Freude über Berufung Priens in Jüdischer Gemeinde

"Endlich mal eine von uns, die in einer wichtigen Position ist, und das bedeutet natürlich auch was für unsere Gemeinde und für das Jüdische überhaupt in Schleswig-Holstein", sagt Gemeindemitglied Gershom Jessen. "Wir gehen fest davon aus, dass sie ein Sprachrohr für die jüdische Welt sein wird, innerhalb der Bundesregierung und auch im Parlament. Das erwarten wir eigentlich, und das wird sie auch erfüllen, diese Erwartung", zeigt sich Jessen sicher.

Gershom Jessen und Frank Nashon Affeldt, Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Flensburg, sitzen an einer Kaffeetafel.

Gershom Jessen und Frank Nahshon Affeldt von der orthodoxen Jüdischen Gemeinde in Flensburg haben sich über die Berufung Karin Priens ins Bundeskabinett gefreut: "Endlich mal eine von uns!"

In Flensburg kennen sie die ehemalige Bildungsministerin Schleswig-Holsteins, die auch Vorsitzende des Jüdischen Forums der CDU ist, von gemeinsamen Veranstaltungen, zeigen stolz Fotos mit ihr im Fotoalbum. "Mich hat es sehr gefreut, dass sie als jüdische Frau diesen Posten bekommen hat", meint Sara Berger. "Ich hoffe, sie bewirkt etwas. Für Frauen, für jüdische Frauen, fürs jüdische Leben." Auch Frank Nahshon Affeldt verbindet mit Priens Berufung nach Berlin die Hoffnung, "dass jemand jüdische Anliegen in einer anderen Form vertritt, wenn ein eigener jüdischer Hintergrund da ist".

Prien: Jüdische Wurzeln haben mich maßgeblich geprägt

Auf Karin Prien lasten also große Erwartungen. Sie teilte auf Anfrage von NDR Info schriftlich mit, sie wolle sich dafür einsetzen, "dass das Verständnis der Mehrheitsgesellschaft für jüdisches Leben, aber auch für die Bedeutung jüdischer Identität für unsere deutsche Identität wächst".

Erst seit einigen Jahren thematisiert sie ihre jüdischen Wurzeln öffentlich. Ihre beiden Großväter waren Juden, die Urgroßmutter wurde in einem Vernichtungslager ermordet, erzählte Prien 2022 in einem Interview mit dem ZEIT-Magazin. Einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Dort habe es keine Juden gegeben. Das Bekennen zum Jüdischsein sei deshalb nicht selbstverständlich gewesen, nicht ohne Beklommenheit.

"Meine jüdische Familiengeschichte und meine jüdischen Wurzeln haben nicht nur maßgeblich meine Kindheit und Jugend geprägt, sondern auch meinen Entschluss, mich politisch und gesellschaftlich zu engagieren", so Prien zu NDR Info. "Wer 'Nie wieder' ernst meint, muss auch bereit sein, etwas dafür zu tun und sich dafür einsetzen, dass Menschenrechte, dass Grundrechte tatsächlich gelebt werden. Wir wollen, dass Antisemitismus in diesem Land keine Chance hat. Die Realität ist jedoch eine andere und sie ist beschämend. Antisemitismus erleben Jüdinnen und Juden von den extremen Rändern her, aber mittlerweile auch aus der Mitte der Gesellschaft."

Vorsichtshalber ohne Kippa auf der Straße unterwegs

Die Gemeinde in Flensburg sei bislang von schwereren Vorfällen verschont geblieben, sagt Gershom Jessen. "Aber natürlich fühlt man sich als jüdischer Mensch betroffen. Man ist immer dünnhäutiger, wird immer hellhöriger." Und vorsichtiger. Er selbst gehe zum Beispiel nicht mehr allein mit Kippa durch die Stadt. "Das würde ich nicht mehr machen, obwohl ich das gerne tun würde, obwohl ich eigentlich sage 'jetzt erst recht'. Aber das ist einfach unvernünftig." Er habe die Kippa aber immer dabei in der Tasche. "Das ist immerhin etwas. Aber ich setze sie nicht auf."

Höchststand bei antisemitischen Vorfällen in SH

Jessens Sorge deckt sich mit aktuellen Zahlen: Im vergangenen Jahr gab es in Schleswig-Holstein 588 antisemitische Vorfälle, wie die Informations- und Dokumentationsstelle Antisemitismus (LIDA-SH) am Donnerstag bekanntgab. Das waren so viele wie noch nie seit deren Gründung. 2023 waren es 120 Fälle. Für 2024 bedeutet das, dass es mehr als elf Vorfälle pro Woche gab. Die Dunkelziffer sei vermutlich noch deutlich höher. Nur ein Bruchteil der Fälle werde wohl durch die Dokumentation abgebildet, teilte LIDA-SH mit.

Besonders häufig ereignen sich antisemtische Vorfälle laut LIDA-SH im öffentlichen Raum, meist auf der Straße. Aber auch im eigenen Wohnumfeld würden Jüdinnen und Juden vermehrt mit Antisemitismus konfrontiert.

Priens Botschaft: "Bleibt hier, geht nicht weg!"

Angesichts des wachsenden Antisemitismus dächten viele Jüdinnen und Juden darüber nach, Deutschland zu verlassen, sagt Jessen. "Wenn ich mich so umhöre, dann würde ich mal behaupten, dass gut die Hälfte aller jüdischen Menschen in Deutschland überlegt, ob sie wieder die Koffer packen sollten oder nicht. Das ist schon ziemlich heftig."

Priens Botschaft an diese Menschen: "Bleibt hier, geht nicht weg! Gottseidank leben wir heute in einem anderen Deutschland. In einem Deutschland, für das der erste Artikel des Grundgesetzes, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das prägende Element ist", betonte sie gegenüber NDR Info. Gleichwohl müsse viel getan werden, um dem Antisemitismus entgegenzuwirken.

Ihrem Ministerium könnte dabei eine Schlüsselstelle zukommen. "Wir sind in Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft. Wir müssen mehr Rücksicht darauf nehmen, dass viele Kinder und Jugendliche über ihre Biografie keinen direkten Zugang zur deutschen Vergangenheit haben." Laut Studien mache es einen Unterschied, ob Kinder zehn oder 13 Jahre zur Schule gehen. Es müsse sichergestellt werden, dass auch diejenigen, die mit 15 oder 16 die Schule verlassen, fundiert über den Holocaust aufgeklärt werden. Den berufsbildenden Schulen komme eine Schlüsselrolle zu. 

Lebensrealitäten jüdischer Menschen besser im Blick

"Karin Prien hat sich in der Vergangenheit sehr, sehr klar und überzeugend positioniert, wenn es um Antisemitismus ging, aber auch wenn es um die Frage geht, wie man sich solidarisch mit dem Staat Israel verhält", sagt Aron Schuster. Er ist Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, dem sozialen Dachverband der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.

.

Aron Schuster meint, ein Kabinettsmitglied mit jüdischem Hintergrund sei auch 75 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik entfernt von Normalität.

Für Schuster bestehe dank Prien als Ministerin für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend jetzt die Chance, dass jüdische Lebensrealitäten noch stärker mitgedacht werden im politischen Handeln des Ministeriums. Konkret bezieht er sich zum Beispiel auf Zehntausende jüdische Zugewanderte aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Diese seien heute im Seniorenalter und führten oft ein Schattendasein, litten zum Teil unter Altersarmut und müssten zudem verstärkt Antisemitismus-Erfahrungen machen. "Ich bin davon überzeugt, dass mit Karin Prien diese Lebensrealitäten noch stärker auch im politischen Handeln des Ministeriums mitgedacht werden", sagt Schuster.

Jüdische Ministerin "entfernt von Normalität"

Dass erst mehr als 75 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik die erste Bundesministerin mit jüdischem Hintergrund ins Amt gekommen ist, erklärt sich Schuster damit, dass jüdisches Leben nach der Shoah sehr lange im Wiederaufbau begriffen gewesen sei. "Über Jahrzehnte hinweg war der Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden geprägt von Bewältigung traumatischer Erfahrungen, dem Ringen um Anerkennung, aber auch dem erneuten Aufbau einer eigenen Identität." Gleichwohl erführen Jüdinnen und Juden weiterhin Stigmatisierungen im Alltag. "All das unterstreicht, warum wir vermutlich noch entfernt sind, davon zu reden, dass ein Kabinettsmitglied mit jüdischen Wurzeln Normalität ist. Es ist nach wie vor die Ausnahme", sagt Schuster. Zugleich sei es aber ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität.

"Ministerin und Jüdin - ja, und?"

Auch an der Kaffeetafel in Flensburg wünschen sich die Gemeindemitglieder, dass mit Karin Prien in ihrer neuen herausgehobenen Position eine gewisse Normalität eintritt: "Vor allen Dingen sind wir keine Exoten! Wir sind ganz normale Menschen, die ein ganz normaler Bestandteil dieser Gesellschaft sind", meint Gershom Jessen. "Dass ein eine von uns Ministerin geworden ist auf Bundesebene, ist auch ein Zeichen dafür."

MItglieder der Jüdischen Gemeinde in Flensburg sitzen an einem Kaffeetisch.

In der jüdischen Gemeinde in Flensburg wünscht man sich, dass eine jüdische Bundesministerin zur Normalität wird.

Auch Frank Nahshon Affeldt wünscht sich, dass jüdisches Leben normal wird in Deutschland, in allen Positionen und Gesellschaftsbereichen - "dass Juden weder verteufelt werden, noch auf irgendeine Art Podest gehoben werden". Denn noch müsse es betont werden, dass mit Karin Prien die erste jüdische Bundesministerin im Amt ist. "Aber ideal ist es, wenn es eben nicht mehr betont werden muss, wenn es eigentlich völlig egal ist, welchen Hintergrund jemand hat", sagt Affeldt. "Ich möchte irgendwann erleben, dass es nicht mehr betont werden muss, dass jemand Jude ist." Jessen ergänzt: "Sie ist eine Jüdin und sie ist Ministerin - ja, und?"

Dieses Thema im Programm:
Aktuell | 14.05.2025 | 06:06 Uhr